Österreich

Wahlbeisitzstudie im Parlament diskutiert

2 Mai , 2022  

Wien, 2. Mai 2022: wahlbeobachtung.org und VieCER (Universität Wien) stellten die Ergebnisse und Empfehlungen der Wahlbeisitzstudie VertreterInnen aller politischer Parteien im Parlament vor. 

Bild ©Josef Barth 

Die Studienergebnisse können hier abgerufen werden:

Infographik der Studie

Endbericht der Wahlbeisitzstudie

Berichterstattung auf der Webseite des Parlaments

Wahlbeisitz in Österreich: Ergebnisse von Forschungsprojekt im Parlament präsentiert

Debatte der ParteienvertreterInnen über Nominierungsmodus von WahlbeisitzerInnen

Auf Einladung von Parlamentsdirektor Harald Dossi präsentierten das Vienna Center for Electoral Research (VieCer) und wahlbeobachtung.org die Ergebnisse ihres gemeinsamen Forschungsprojekts „Wahlbeisitz in Österreich“ im Palais Epstein. Dafür wurden über 800 WahlbeisitzerInnen unter anderem nach ihrer Motivation, ihren Wahrnehmungen und Verbesserungsvorschlägen befragt. Aus den Resultaten der Erhebung leiteten die ForscherInnen Interventionsvorschläge ab, die auf eine höhere Partizipation und eine Stärkung der Integrität des demokratischen Wahlverfahrens zielen.

Im Anschluss an die Präsentation diskutierten VertreterInnen der fünf Parlamentsparteien sowie ExpertInnen aus Bundeskanzleramt und Innenministerium die Ergebnisse der Forschung sowie über die Herausforderungen des Wahl- und Auszählungsprozesses. Moderiert wurde die Veranstaltung vom Chefredakteur der Wiener Zeitung, Walter Hämmerle.

Parlamentsdirektor Harald Dossi drückte in seinen einleitenden Worten seine Freude darüber aus, dass alle Parlamentsklubs VertreterInnen entsandt haben, um zu diesem aktuellen rechtspolitischen Thema zu diskutieren. Das Österreichische Parlament rückte 2021 das Thema Ehrenamt in den Fokus und WahlbeisitzerInnen seien ein Musterbeispiel für die Relevanz ehrenamtlicher Tätigkeit. Sie leisteten einen essenziellen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie und spielten eine wichtige Rolle an dessen Dreh- und Angelpunkt: den Wahlen.

Das Forschungsprojekt: Ergebnisse und Empfehlungen

Der Leiter des VieCer an der Universität Wien, Wolfgang C. Müller, erörterte den Hintergrund des Forschungsprojekts, bei der die Bundespräsidentenwahl 2016, die mit einer Aufhebung des Wahlergebnisses durch den Verfassungsgerichtshof einherging, den Anstoß gab. Dieses „fundamentale Ereignis der österreichischen Wahlgeschichte“ habe einige Fragen bezüglich der Integrität des Wahlprozesses aufgeworfen und verdeutlicht, dass es eine zunehmende Herausforderung darstelle, das etablierte System am Laufen zu halten. Der Mitgliederschwund und die Überalterung der Parteien produziere massive Rekrutierungsprobleme bei den WahlbeisitzerInnen und stelle das bisherige System auf eine harte Belastungsprobe. Ziel des Forschungsprojekts sei es, sich dem Status Quo wissenschaftlich zu nähern und Diskussionen über etwaige Weiterentwicklungen anzuregen.

Müllers Kollegin vom VieCer Julia Partheymüller erläuterte die methodische Vorgehensweise und die Ergebnisse der Forschung. Diese sei im Zeitraum Oktober bis Dezember 2019 mittels Online-Befragung unter mehr als 800 WahlbeisitzerInnen durchgeführt worden. Unter dem Titel „Wahlbeisitz in Österreich“ habe man in Zusammenarbeit mit wahlbeobachtung.org Motive, Wahrnehmungen, Zufriedenheit und Verbesserungsvorschläge der WahlbeisitzerInnen ermittelt. Zudem interessierten sich die ForscherInnen für die Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, Ausbildung, Rechtssicherheit, grundlegende Einstellungen und soziodemographische Daten, um die Partizipation verschiedener sozialer Gruppen am demokratischen Prozess zu untersuchen.

Die Ergebnisse der Studie zeigten laut Partheymüller, dass es sich bei den WahlbeisitzerInnen um eine Gruppe von politisch höchst involvierten Personen handle, wobei deren politische Einstellungen jene der Gesamtbevölkerung gut repräsentierten. Als Hauptmotiv werde die Bürgerpflicht, an der Demokratie mitzuwirken  angegeben und die überwiegende Mehrheit der Befragten sind mit ihrer Tätigkeit zufrieden. Frauen, JungwählerInnen und ältere Menschen seien unter den WahlbeisitzerInnen deutlich seltener vertreten als Männer, sowie Personen mittleren Alters und Menschen mit gutem bis sehr gutem Einkommen. Etwaige Probleme hinsichtlich der Integrität des Wahlprozesses werden laut Studien am ehesten im Bereich der Medienberichterstattung, der sozialen Medien sowie der möglichen Einflussnahme durch das Ausland wahrgenommen. Im Hinblick auf den Wahl- und Auszählungsprozess würden insbesondere die Vorzugsstimmen eine Herausforderung für die Wahlkommissionen darstellen. Die Befragten wiesen jedoch generell mehr Vertrauen in das Wahlverfahren auf, als die Bevölkerung im Allgemeinen. Die Mehrheit der WahlbeisitzerInnen erhielte bislang keine finanzielle Vergütung, würde sich aber eine solche bzw. eine höhere wünschen sowie eine generell stärkere Anerkennung erwarten.

Armin Rabitsch von wahlbeobachtung.org, einer zivilgesellschaftlichen, unparteiischen Arbeitsgemeinschaft zur Verbesserung der Wahlpraxis, ging näher auf die aus den Ergebnissen abgeleiteten Empfehlungen ein. Diese zielten auf eine höhere Teilnahme seitens der Zivilgesellschaft sowie eine Stärkung der Integrität des demokratischen Wahlverfahrens. Um eine ausreichende Zahl an WahlbeisitzerInnen auch künftig zu gewährleisten, regten sie etwa an, die Kriterien über die Nominierung durch Parteien hinaus zu öffnen, was vor allem jüngere Menschen und Frauen motivieren könnte mitzuwirken, so Rabitsch. Auch eine gerechte, dem Zeitaufwand angepasste, einheitliche Entschädigung könne dazu beitragen. Zur flächendeckenden und ausreichenden Vorbereitung der WahlbeisitzerInnen sollten „sanfte Maßnahmen“, etwa durch einen niederschwelligen Zugang zu Informationsangeboten, ergriffen werden. Verpflichtende Trainings würden von den Befragten kritisch gesehen. Zudem solle beim bestehenden Informationsangebot die Komplexität reduziert und der Praxisbezug weiter ausgebaut werden. Erhöhter Informationsbedarf bestehe auch beim Thema der rechtlichen Konsequenzen im Falle von Verfehlungen, wie der Studie zu entnehmen ist.

ExpertInnen aus Innenministerium und Bundeskanzleramt: System der checks an balances nicht außer Acht lassen

Mathias Vogl, Leiter der Sektion III (Recht) des Innenministeriums und Albert Posch, Leiter des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt zeigten sich kritisch gegenüber einem überzogenen Reformeifer und betonten die Relevanz des Systems der checks and balances für das Funktionieren des Gesamtprozesses. Die Wahlbehörden würden kollegial arbeiten und durch die proporzmäßige Zusammensetzung ein objektives, transparentes und nachvollziehbares Verfahren gewährleisten. Die Besetzung der Wahlbehörden sei ein konstitutiver Akt, der auf Hans Kelsen zurückgehe und benötige klare Spielregel, so Vogl. Auch bei der Bundespräsidentenwahl 2016 sei überwiegend „hochprofessionelle Arbeit“ geleistet worden. Das Fehlverhalten einer kleinen Minderheit rechtfertige nicht die Infragestellung des Gesamtsystems. Wünschenswert wären für Vogl allerdings eine Verankerung der Amtsverschwiegenheit bei den WahlbeisitzerInnen, verpflichtende E-Learning-Module für diese sowie eine zeitgemäße Entlohnung. Wobei dies eher eine budgetäre Frage darstelle.

Gerstl: Ehrenamtlicher Charakter muss erhalten bleiben

Die aus der Studie hervorgegangenen Erkenntnisse über die Missstände beim Wahlbeisitz deckten sich weitestgehend mit seiner eigenen Erfahrung und seien seit Jahren bekannt, erklärte Wolfgang Gerstl (ÖVP). Dennoch zeigte er sich überzeugt, dass was die Wahl betrifft, der Rechtsstaat funktioniere. Auch Gerstl bezog sich auf Kelsen und bezweifelte, dass parteiunabhängige Personen eine bessere Kontrolle ausüben könnten, als die Parteien über sich gegenseitig. Er forderte mehr politische Bildung, um Demokratie auch für die Jugend erlebbar zu machen. Kritisch zeigte er sich auch gegenüber Entschädigung für WahlbeisitzerInnen, die dem Prinzip des Ehrenamtes zuwiderlaufen würde. Stattdessen solle ihnen beispielsweise ein kostenloser Erste-Hilfe-Kurs angeboten werden, was ehrenamtliches Engagement noch fördern würde.

Generell könne man laut Gerstl niemanden zwingen eine solche Funktion zu übernehmen, da sie auch mit einer großen Verantwortung einhergehe. Auch wenn eine bessere Repräsentation der Gesamtbevölkerung wünschenswert sei, habe doch jeder Einzelne selbst zu entscheiden, ob er sich dieser Aufgabe stelle.

Drobits: Zeit ist reif, Zivilgesellschaft teilnehmen zu lassen

Für Christian Drobits (SPÖ) stellt der Wahlbeisitz einen zentralen Baustein der gesamten Wahlorganisation in Österreich dar. Die Zeit sei nun reif, die Zivilgesellschaft auch über die parteipolitische Nominierung hinaus daran teilhaben zu lassen. Es könne nicht sein, dass Männer ab einem gewissen Alter praktisch die gesamten WahlbeisitzerInnen stellen würden. Daher schlug Drobits ein Mischsystem vor, in dem auch BürgerInnen aus der Zivilgesellschaft ohne Nominierung durch eine Partei teilnehmen könnten und bisher unterrepräsentierte Gruppen verstärkt vertreten wären. Er stehe klar für eine Öffnung des Wahlbeisitzes, alleine da manche Parteien nicht in der Lage seien, alle notwendigen WahlbeisitzerInnen zu stellen.

Bedenklich sah Drobits auch den Mangel an jungen Menschen, die diese Funktion wahrnehmen. Daher solle es StudentInnen, beispielsweise der Politikwissenschaften, ermöglicht werden, im Rahmen von Praktika als WahlbeisitzerInnen zu fungieren. Eine einheitliche Entschädigung erachte er als wichtig. Ein verpflichtendes E-Learning gehe ihm allerdings zu weit.

Stefan: Konkurrenzverhältnis der Parteien ist essenziell für Legitimität des Systems

Harald Stefan (FPÖ) bezeichnete sich als großen Verfechter des etablierten Systems der Nominierung von WahlbeisitzerInnen durch die Parteien. Die VerfassungsgeberInnen seien hier meist „viel gescheiter, als das was wir uns in schnellen Reformen überlegen können.“ Bei Reformen müsse man überlegen, ob diese überhaupt eine Verbesserung darstellen. Die gegenseitige Kontrolle der Parteien untereinander gewährleiste das Vertrauen in den Gesamtvorgang, stelle die Hauptmotivation dar, als WahlbeisitzerIn zu fungieren und müsse auch so kommuniziert werden. Nur das Konkurrenzverhältnis der Parteien zueinander, minimiere die Gefahr eines Wahlbetruges, was die Bevölkerung auch so wahrnehme. Deshalb sei es angezeigt, sehr vorsichtig vorzugehen, wenn es um Reformen dieses Systems geht. Kritisch äußerte sich Stefan gegenüber der Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Es handle sich dabei um einen diffusen Begriff, bei dem nicht klar sei, was dahinterstecke.

Prammer: Ein Bewusstsein für die wichtige Aufgabe des Wahlbeisitzes schaffen

Agnes Sirkka Prammer (Grüne) unterstrich die Bedeutung des Vertrauens in den Wahlprozess, dessen Ausgänge nicht unnötig in Zweifel gezogen werden dürften. Hier gebe es einen „feinen Unterschied“ zwischen Überprüfen und Hinterfragen. Es sei evident, dass hier Lösungen von Nöten sein. Sie setze dabei vor allem auf Bildungsarbeit – nicht nur in den Schulen und Universitäten, sondern in der gesamten Gesellschaft. Es müsse der Bevölkerung klar gemacht werden, dass Demokratie nicht bloß heiße ein „Kreuzerl zu machen“.

Jede kleine Sprengelwahlbehörde leiste einen essenziellen Beitrag zur demokratischen Grundordnung und man solle die Menschen durchaus auch mit diesem Selbstvertrauen ausstatten. Es gehe darum, ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Aufgabe des Wahlbesitzes zu schaffen, ohne die die Demokratie nicht funktioniere. Allerdings müsse sich die Bevölkerungsstruktur auch innerhalb der Wahlbehörden abbilden, erklärte Prammer und verwies auf den aus ihrer Sicht niedrigen Migrantenanteil. Sie sprach sich grundsätzlich für eine einheitliche Vergütung für den Wahlbeisitz aus. Jedoch nicht im Sinne einer Entschädigung, sondern in Form einer kleinen Anerkennung.

Arlamovsky: Rekrutierungsproblem ist eines der Parteien

Karl-Arthur Arlamovsky (NEOS) regte an, an den Nominierungsfristen für die WahlbeisitzerInnen zu arbeiten, um dem Rekrutierungsproblem der Parteien entgegenzuwirken. Zur Partizipation von Personen aus der Zivilgesellschaft erklärte er, dass es für diese eine große Hürde darstellen könne, wenn diese von Parteien nominiert werden, auch wenn sie selbst keine Parteimitgliedschaft haben. Die Menschen wollten keine „parteipolitische Punze“ bekommen. Im gegenwärtigen System sei das Rekrutierungsproblem keines der Gesamtgesellschaft,  sondern eines der Parteien, so Arlamovsky. Er sprach auch die Frage der Unvereinbarkeit zwischen einem politischen Mandat und der Mitarbeit in einer Bundeswahlbehörde an, was zusätzlich die Anzahl an möglichen Personen verringere.

Auch Arlamovsky sprach sich für eine einheitliche Entschädigung für WahlbeisitzerInnen aus, die jedoch an der zeitlichen Beanspruchung durch den Prozess orientiert sein solle. Dabei werde sich allerdings die Frage stellen, welche Gebietskörperschaft dafür aufkomme. Im Sinne der Transparenz schlug Arlamovsky zudem vor, ein Trackingsystem für Wahlkarten einzuführen. (Schluss) wit

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments.