Wien, 16. Oktober 2020: wahlbeobachtung.org untersuchte die Verhältnismäßigkeit der Pandemie-Maßnahmen während der Wienwahl am 11. Oktober in Bezug auf internationale Menschenrechte. Befragt wurden die Wiener Wahlbehörde, die Wahlabteilung des Innenministeriums, Gesundheitsbehörden, Wahlpersonal, politische Parteien, Post und zivilgesellschaftliche Organisationen. An der Studie waren neben den Autoren von wahlbeobachtung.org auch externe ExpertInnen und AnalystInnen aus Österreich beteiligt. Ein Gastbeitrag von wahlbeobachtung.org zu den Wiener Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen unter Bedingungen von Covid-19 wurde in der Wiener Zeitung am 16. Oktober veröffentlicht:
Wien-Wahl: Die Wahl mit dem Virus
Paul Grohma, Michael Lidauer, Armin Rabitsch
Als im historischen Wahljahr 1919 erstmals das allgemeine Wahlrecht für Frauen ausgeübt wurde, wütete die Spanische Grippe in Europa. Wie damals auf die Ansteckungsgefahr reagiert wurde ist weitgehend unaufgearbeitet und bedürfte einer historischen Analyse. Im Jahr 2020, als das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) kurz vor dem Wahltag die Region Wien als höchstes Risikogebiet auswies, widmet sich die Initiative wahlbeobachtung.org den Auswirkungen von Covid-19 auf die Wahlpraxis und analysiert Wahl-spezifische Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung.
Die Studie zu den Wiener Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen unter Bedingungen von Covid-19 beruht auf vorangegangenen Recherchen zu Auswirkungen der Pandemie auf demokratische Prozesse in Europa. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht die demokratiepolitische Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, unter denen Wahlen abgehalten werden. Befragt wurden Wahl- und Gesundheitsbehörden, politische Parteien, die Post, der Verein BIZEPS sowie eine kleine Gruppe von Wahlberechtigten. Das Wahlgesetz sieht nach wie vor keine Möglichkeit einer zivilgesellschaftlichen Wahlbeobachtung vor, die ein größeres und inhaltlich umfassenderes Sample ermöglichen würde. Dieses Anliegen einer stärkeren Bürgerbeteiligung bei Wahlen, das von der OSZE und durch internationale Verpflichtungen der Republik gestützt wird, bedürfte einer umfassenden Wahlrechtsreform, für die sich die Initiative wahlbeobachtung.org seit 2013 engagiert.
Was waren die Auswirkungen von Covid-19 auf diese Wahlen? Für den Wahlkampf war die Pandemie nicht nur inhaltlich prägend, auch die Durchführung von Veranstaltungen war betroffen. Wahlwerbung verschob sich weitgehend ins Internet und in die Medien, was von einigen Listen als Nachteil empfunden wurde. Manche Parteien verzichteten freiwillig auf öffentliche Kundgebungen, andere änderten ihre Taktik nicht über die allgemeinen Covid-19 Gesetze hinaus. Auffällig war eine Tendenz von Parteien des rechten Spektrums, Covid-19 Maßnahmen in Frage zu stellen und Wahlkampfeinschränkungen nur bedingt umzusetzen.
Hinsichtlich der Wahldurchführung wurde die rechtliche Grundlage für eine längere Auszählungsdauer der Wahlkarten und für die „Maßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung von Covid-19 bei der Durchführung der Wahl“ in Form einer Verordnung geschaffen. Letztere bezieht sich auf das Covid-19 Maßnahmengesetz und enthält spezifische Regelungen für die Wahlabwicklung. Im Vordergrund steht die Verhinderung von Corona-Clustern am Wahltag sowie der Schutz der Wahlberechtigten. Besonderer Schutz kommt den wahldurchführenden Organen – insbesondere den OrdnerInnen – zu, die mit Maske und zusätzlichem Gesichtsvisier auszustatten waren. Zudem wurden 12.000 Gurgeltests ausgegeben, die alle Wahlorgane verpflichtend vor und nach der Wahl durchzuführen hatten. Die Verordnung trat am 14. Oktober wieder außer Kraft und stellt somit keine dauerhafte Veränderung der gesetzlichen Grundlagen für Wahlen in Wien dar.
In den Wahllokalen kam eine detaillierte Dienstanweisung zur Anwendung, die Vorgaben zu Hygiene, regelmäßigem Lüften sowie Masken- und Abstandsregeln festlegte. Ein sogenanntes COVID-Sackerl mit Schutzvorrichtungen, Desinfektionsmitteln und Covid-19 Plakaten wurde an alle 1.494 Wahllokale verteilt. Für die 1.362.789 Wahlberechtigten waren Paravents aus Plexiglas bei der kontaktlosen Identifikationsüberprüfung sowie das Fehlen von Kugelschreibern in den Wahlkabinen die wohl auffälligsten Veränderungen. Aus Sicht von Menschen mit Behinderungen war die Verlegung von Wahllokalen bedeutsam, die Änderungen des barrierefreien Zugangs bedingen konnte.
Positiv zu bewerten ist der vereinfachte Zugang zu Wahlkarten, um Menschen-ansammlungen vor und in den Wahllokalen zu verhindern. Wahlkartenanträge wurden an alle Haushalte verschickt und konnten über die Homepage der Stadt Wien beantragt werden. Auch Parteien bewarben die Nutzung von Wahlkarten intensiv. Das Einsenden wurde durch ein Direct Mailing System und zusätzliche Briefkästen samt Sonntags-Entleerung erweitert. Bis zum 9. Oktober wurden 382.214 Wahlkarten beantragt, was mit 28% der Wahlberechtigten und rund 40% der abgegebenen Stimmen mehr als einer Verdoppelung gegenüber 2015 entspricht. In manchen Bezirken wählten bis zu 60% per Wahlkarte. Dieser signifikante Anstieg führte zu logistischen Herausforderungen, die seitens der Post ohne zusätzliches Personal bewältigt wurden. In den Bezirkswahlbehörden dauerte die Auszählung trotz Hinzuziehung unterstützender MitarbeiterInnen bis spät in die Nacht des Dienstags.
Bemängelt wurde, dass Wahlberechtigte das Eintreffen ihrer Wahlkarten und deren Aufnahme in die Auszählung nicht überprüfen konnten. Dies wäre aufgrund des verwendeten QR-Codes möglich, wurde aber nicht umgesetzt. Angesichts der steigenden Beliebtheit dieser Art der Stimmabgabe wäre ein solches Service bei künftigen Reformen zu erwägen. Die Verzögerung bei der Auszählung der Wahlkarten spricht zudem für eine Neuregelung des Zählverfahrens, um früher zu Ergebnissen zu gelangen als es bei dieser Wahl der Fall war. Ob die Covid-19 Maßnahmen tatsächlich Ansteckungen verhinderten oder der Wahltag zu einer weiteren Verbreitung der Pandemie führte bleibt abzuwarten. Die rückläufige Wahlbeteiligung von 65,27% kann jedenfalls nicht ausschließlich Covid-19 Bedingungen zugeschrieben werden.
Aus der Sicht zivilgesellschaftlicher WahlbeobachterInnen wird der Wien-Wahl ein gutes Zeugnis in Bezug auf Gestaltung, Kommunikation und Umsetzung der Pandemie-Maßnahmen ausgestellt. Der Wahlkampf wurde nicht über die allgemeinen Corona-Gesetze hinaus reglementiert und Einschränkungen bei Großveranstaltungen beruhten auf Freiwilligkeit der Parteien. Eingriffe ins Wahlrecht priorisierten den Schutz der Wahlberechtigten und wahldurchführenden Personen sowie das sichere Zustandekommen der Wahl und waren zeitlich begrenzt, was im europaweiten Vergleich ein positives Beispiel demokratiepolitischer Verhältnismäßigkeit abgibt. Aus Sicht der WählerInnen ergab die Umfrage von wahlbeobachtung.org eine hohe Akzeptanz der getroffenen Schutzmaßnahmen und weitgehende Zufriedenheit mit der Abwicklung der Wahl unter Bedingungen von Covid-19.
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